Wir trauern

Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation und wissen inzwischen, dass sie noch lange anhalten wird. Der weltweite Ausbruch des Corona-Virus hat unser aller Leben verändert. Auch wenn es große Unterschiede in den Betroffenheiten gibt, spüren Menschen auf der ganzen Welt die Bedrohung und die Auswirkungen des Virus. Was als Normalität galt, ist an vielen Stellen weggebrochen. Arbeit, Freizeit, Bildung, alle gesellschaftlichen Bereiche sind betroffen.

Normalität hat jedoch schon immer unterschiedliche Bedeutungen gehabt: manche Menschen haben durch sie Zugang zu Ressourcen, Macht und Einfluss gefunden. Sie hatten das Gefühl, dazuzugehören. Für viele war die Norm jedoch schon immer eine Mauer, die sie von gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung ausschließt.

Normalität war dennoch für alle eine Orientierung. Eine teilweise unausgesprochene Vereinbarung darüber wie Gesellschaft funktioniert: wer sich wie verhalten kann, wessen Verhalten wie bewertet wird. Die Festlegung und Aufrechterhaltung unserer Normalität beruhten auf Gewalt. Das ist wichtig zu erinnern, weil es deutlich macht, dass Gewalt keine Ausnahme, sondern im Kern unseres Alltags wirksam ist – vor der aktuellen Situation wir auch jetzt.

Der Virus wirkt wie ein Brennglas. Er führt uns unsere Abhängigkeit voneinander vor Augen. Er wirkt als Kontrastmittel, bringt soziale Ungerechtigkeit deutlicher zum Vorschein und verstärkt sie. Doch alles was wir nun nicht mehr übersehen können, war vorher schon da: Rassismus, Armut, häusliche Gewalt, Lohnungerechtigkeit, die Not in der sich geflüchtete Menschen weltweit befinden, der geringe Wert, der alten, kranken Menschen und Menschen mit Behinderungen in dieser Gesellschaft zugesprochen wird. Die verwundbarsten gesellschaftlichen Gruppen sind den Folgen des Virus am stärksten ausgesetzt. Das Neue ist das gleichzeitige Erleben einer weltgesellschaftlichen Betroffenheit bis hinein in die Chefsessel der privilegierten Gruppen. Auch dort gibt es ein Erschaudern, ein Erkennen dieser Verbundenheit. Trotz all unserer Systeme, die auf Trennung und Abschottung beruhen.

Was wir schon immer wissen, lässt sich jetzt nicht mehr wegschieben.

Die aktuelle Situation fällt auf gefährlichen Boden. Wir müssen soziale Ungerechtigkeiten, die allgemeine Entwicklung Richtung Faschismus und Extremismus und die Zerstörung unserer Umwelt im Auge behalten. Das ist eine Herausforderung. Die Nachrichten sind fast ausschließlich mit Meldungen über den Corona-Virus gefüllt. Gleichzeitig sind wir in persönlichen existenziellen Prozessen, müssen uns um uns selbst und unsere Liebsten kümmern. Auch in mir hat der Virus wie ein Brennglas gewirkt: er hat starke Emotionen ans Tageslicht gebracht und mich gezwungen, mich neu zu sortieren und zu positionieren. Erst einmal war ich jedoch überfordert.

Die aktuelle Situation hat bei vielen Menschen ein Gefühl der Ohnmacht hervorgerufen. Wir sind in unserem Kern betroffen, alles scheint zusammenzubrechen. Es liegt nicht in unserer Hand wie lange die Situation anhalten und welche Konsequenzen sie letztendlich haben wird. Das kann Traumata triggern und zur Folge haben. Der Begriff Trauma stammt aus dem Griechischen und bedeutet Wunde. Trauma beschreibt die Verletzung, die von überfordernden Ereignissen ausgelöst werden kann. Die Auswirkungen des Virus können zu einer starken emotionalen und kognitiven Überforderung führen und somit traumatisierend wirken. Die Angst vor Erkrankung und Tod, Einsamkeit, soziale Isolation, erhöhter Einsatz von Polizei und Militär, die Abwägung von wirtschaftlichen Interessen gegen das Leben von Personen, die sogenannten Risikogruppen angehören – das alles sind Erfahrungen, die vergangene traumatische Erlebnisse triggern oder neue Reaktionen hervorrufen können.

Ich selbst lebe mit verschiedenen Traumata und einer erhöhten Angst im Alltag. Als sich der Ernst der Lage vor ein paar Wochen herausstellte, habe ich eine starke Angst bis hin zur Panik gespürt. Vor allem die Sorge um mir nahe stehende Menschen und die Achtlosigkeit großer Teile unserer Gesellschaft haben mich an meine Belastungsgrenze gebracht. Doch keines der Gefühle, die hoch kamen, waren mir neu. Ich habe eine Weile gebraucht, um das zu realisieren. Und da hatte ich die Erkenntnis: Moment, ich kenne das alles. Ich kenne die Themen, ich kenne die Gefühle, alles summiert sich, ja. Ich habe aber Strategien, um damit umzugehen. Ich kenne das emotionale Chaos. Ich habe es in der Vergangenheit überlebt und habe über die Jahre Eigenschaften entwickelt, die mir helfen, dieses Chaos zu transformieren. Da ich diesen Prozess selbst durchlebt habe, weiß ich, dass wir das als Gesellschaft auch können.

Wir müssen uns jedoch dafür entscheiden.

Die Umstände zwingen uns zum Handeln, aber bei Überforderung schaltet unsere Psyche ab. Das ist ein Schutzmechanismus, der ein Segen ist. Als Kind hat er mir das Leben gerettet. Heute ist er Fluch und Segen zugleich. Denn auch wenn jede Person ihre eigene Geschichte hat und ihre Zeit braucht, müssen wir als Gesellschaft wachsam und handlungsfähig bleiben.

Mir hat es geholfen, verschiedene Artikel zum Thema Trauer zu lesen, um zu begreifen was in mir vor sich geht und die verschiedenen Gefühle in mir zulassen zu können.

Wir trauern individuell und kollektiv um die Normalität – unser Orientierungsmodell, um in dieser Welt sein zu können.

Wir trauern um unsere Rollen, um die Dinge, die wir meinen zu brauchen, um uns wichtig und gut zu fühlen. Wir sind traurig, wütend, trotzig, niedergeschlagen und versuchen, die unangenehme Wirklichkeit aus unserem Bewusstsein zu verbannen. Elisabeth-Kübler Ross hat in Trauerprozessen fünf Stufen ausgemacht:

Leugnen

Ärger

Verhandeln

Depression

Akzeptanz

Der Trauerprozess ist in der Regel nicht linear. Wir bewegen uns zwischen den Stufen vor und zurück: Auch wenn wir vielleicht schon angefangen haben, zu verhandeln, können wir noch einmal zurück zum Ärger oder zum Leugnen der Realität gehen.

Das Leugnen des Ernstes der Situation erleben wir auf vielen Kanälen: „Ich mache mir da keine Sorgen, ist doch nur eine Grippe. So schlimm wird es bei uns schon nicht werden. Jetzt gehe ich erst einmal Klopapier einkaufen. Nur zur Sicherheit.“

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Der Ärger sagt: „Ich will nicht zuhause bleiben! Alles was mir Freude macht, ist jetzt verboten! Da mache ich nicht mit!“

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Das Verhandeln bringt Möglichkeiten ins Spiel: „Okay, ich bleibe noch zwei Wochen zuhause, nach Ostern will ich aber wieder ins Fitness-Studio gehen!“

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Alle Kraft verschwindet, wenn die Depression zu Wort kommt: „Ich weiß nicht wie ich das aushalten soll. Nichts ergibt mehr Sinn in meinem Leben. Was soll ich nur machen. Ich habe keine Kraft mehr.“

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Als letzte Stufe des Trauerweges wartet die Akzeptanz. Sie sagt mit klarer Stimme: „Okay, es ist wie es ist. Ich habe mir diese Situation nicht ausgesucht, sie hat schreckliche Seiten, aber ich werde mich darauf einstellen und neue Wege für mein Leben finden!“

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Wenn wir anfangen, die Situation mit all den Emotionen zu akzeptieren, erkennen wir unsere Grenzen, aber auch unsere Handlungsmöglichkeiten: „Ich bleibe zuhause, wasche mir die Hände und suche nach neuen Möglichkeiten, Kontakt zu halten, meine Arbeit zu gestalten, um Hilfe zu bitten und im Rahmen meiner Möglichkeiten andere Menschen zu unterstützen.“ Wir erhalten durch Akzeptanz unsere Handlungsmacht zurück.

Was wir jetzt brauchen

  • Mut, die Wahrheit zu erkennen und zu benennen

  • Die Fähigkeit, Gefühle zuzulassen

  • Radikal liebevoll zu denken

  • Abhängigkeit anzuerkennen

  • Fehler eingestehen und aus ihnen zu lernen zu können

  • Sanft zu uns selbst und anderen zu sein

  • Die Verletzlichkeit, die uns als Menschen eigen ist, als Normalität zu akzeptieren

  • Kreativität, nach neuen Wegen zu suchen

  • Die Fähigkeit vermeintlich voneinander Getrenntes zu verbinden

 

Diese Fähigkeiten haben Menschen, die schon immer erfinderisch sein mussten, um in ihrem Leben zurecht zu kommen. Personen, die gelernt haben wie mensch sich selbst zum Elternteil wird. Menschen, die durchlebt haben, dass Emotionen zerstören und heilen können – je nachdem wie wir mit ihnen umgehen. I summon my coven and am listening.

Es geht nicht darum, stark zu sein. Die Situation ist für alle überfordernd. Es geht darum wie wir unsere Ressourcen und Bedürfnisse in unser kollektives Bewusstsein holen. Wir sind aufeinander angewiesen, wir brauchen einander.

I need you and you need me. We need each other.

Jetzt ist die Zeit dafür, in die eigenen Kraft zu wachsen, die eigene Power zu spüren und sich in Schwäche und Verletzlichkeit zu zeigen. Erschöpfung und Zweifel werden Teil unseres Lebens sein. Heilung und Transformation unser Weg.

Ich bin müde und ich bin hier.

So let’s go!