ACHTSAMKEIT

Das Glossar ist „work in progress“. Ich lerne jeden Tag dazu und meine Erfahrungen prägen wie ich Themen einordne und beschreibe.

Achtsamkeit ist eine buddhistische Lehre und Praxis, die inzwischen auf vielfältige Art Eingang in den westlichen Alltag gefunden hat. Sie bietet einen Rahmen zum Ankommen im Hier und Jetzt und kann helfen, unsere Aufmerksamkeit aus dem Kummer der Vergangenheit und den Sorgen um die Zukunft zurückzuholen. Unsere kapitalistische Gesellschaft versucht, einen Nutzen aus diesem Prinzip zu ziehen: Ob es um Wellness geht, um Unterstützung bei Psychotherapien oder sogar um die Optimierung von Leistung in Unternehmen, von einem achtsamen Bewusstsein versprechen sich Menschen und Organisationen viel.

Dabei ist es ein Widerspruch, mit Achtsamkeit ein Ziel zu verfolgen. Es ist viel eher eine Haltung zum Leben allgemein und bedarf einer tiefen Praxis und Bereitschaft, verletzlich zu sein und sich selbst und anderen Menschen authentisch zu begegnen. Achtsamkeit ist auch Teil meines Lebens und ich versuche sie in mein Handeln, mein Denken und Sein zu integrieren. Ich scheitere in diesem Prozess regelmäßig. Vor allem im Umgang mit Ängsten, konnte ich jedoch bedeutende Veränderungen bei mir feststellen – beziehen sich unsere Ängste doch selten wirklich auf eine aktuelle Situation und so häufig auf Dinge, die passieren könnten oder die bereits geschehen sind. Eine Rückkehr in den eigenen Körper und eine Konzentration auf den Atem können große Hilfen im Alltag darstellen. Im Umgang mit starken Ängsten kann eine achtsame Praxis die Arbeit mit einer erfahrenen Ärztin oder Psychotherapeut*in begleiten

Auch für die Arbeit für soziale Gerechtigkeit sehe ich in dem Prinzip der Achtsamkeit ein großes Potential. In Antirassismus- und Empowerment-Workshops kommen häufig starke Emotionen und Widerstände auf, die eine weit reichende Wirkung entfalten können. Ein wichtiger Teil dieser Arbeit beruht auf der Vermittlung von machtkritischem Wissen und Konzepten zum Verständnis von gesellschaftlichen Machtstrukturen. Da wir Menschen nicht rein kognitive Wesen sind, reicht Wissen jedoch nicht aus. Gerade in der westlichen Gesellschaft erfahren wir eine Spaltung von Geist, unseren Körpern und unseren Gefühlen und Emotionen. Diese Spaltung ist Resultat und Ursprung der Erfahrung von gesellschaftlicher Unterdrückung. Wer Verbindung zu sich selbst, anderen Menschen und der Welt spürte, wird Unterdrückung nicht akzeptieren können - aus der Perspektive der weniger sowie der mehr privilegierten Menschen. Wenn wir unterdrückende Strukturen nachhaltig überwinden wollen, müssen wir also bei uns selbst und im Hier und Jetzt beginnen: mit Achtsamkeit.

Bevor wir uns in endlose Diskussionen verstricken in denen jede Person auf ihrer Erfahrung und ihrem Recht beharrt, kann der Ausdruck von aktuellen Gefühlen oder eine gemeinsame Atemübung Blockaden lösen. Ich möchte jedoch auch noch einmal deutlich machen, dass Achtsamkeit kein Ersatz für machtkritische und Struktur verändernde Arbeit darstellt, sie ist jedoch der Weg wo wir oftmals steckenbleiben und eine Möglichkeit, um uns selbst und andere wieder als Menschen zu erleben.