Jetzt ist der Moment
Ich bin wütend. Nicht wirklich verwundert, aber wütend über das Verhalten der Menschen in der aktuellen Situation. Mit 10 Packungen Toilettenpapier im Keller scheint es sich immer noch entspannt über das Wochenende wegfahren lassen. „Man kann es auch übertreiben“, „ich lasse das nicht so an mich heran“. Unverhältnismäßiger Konsum ja, meine nicht notwendigen Aktivitäten einschränken, nein. Sicher sind das unterschiedliche Menschen, dennoch ist es ein und dasselbe Verkennen der Realität. „So direkt bin ich da ja nicht betroffen.“ Dosentomaten hamstern, ja, meine Freizeit neu denken, um das Leben anderer Menschen zu schützen, das geht dann zu weit.
Der Mangel an Solidarität zeigt wie tief Ableism und Ageism in unserer Gesellschaft verankert sind – dass wer alt oder krank ist, mit einer Behinderung lebt, als nicht wertvoll genug betrachtet wird, um auf den Kauf der neuen Schuhe zu verzichten. Und es zeigt wie sehr Theorie (wir müssen uns einschränken) und Verhalten (ich sage meine Verabredung zum Brunch ab) auseinanderklaffen. Ich verstehe, dass es Zeit braucht, um neue Informationen zu verarbeiten und in unser Verhalten zu integrieren. Das war, ist und bleibt für mich eine ständige aktive Auseinandersetzung, ein Abwägen und nie ganz sicher sein. Doch es ist ja nicht so, dass die Informationen neu sind. China, Iran, Italien waren vor uns betroffen und wir hätten aus ihren Erfahrungen lernen können. Das haben wir nicht getan. Ich spüre dabei Ignoranz, ein Gefühl der Überlegenheit, das nicht nur auf einen Körper ohne Behinderung, sondern auch auf Deutsch sein/europäisch sein/letztendlich weiß sein zurückgeht. „Bei uns wird es schon nicht so schlimm werden.“ „Wir sind ja nicht direkt betroffen.“
Länder wie Taiwan und Vietnam haben schnell von der aktuellen Situation in China aber auch durch die Erfahrungen mit SARS 2002 gelernt. Jetzt waren sie nicht nur mit Pandemieplänen vorbereitet, sondern haben auch konsequent gehandelt, frühzeitig Veranstaltungen abgesagt, Universitäten und Schulen geschlossen. Wir dagegen leben immer noch in dem überheblichen Irrglauben, dass Katastrophen sich anderswo abspielen und wir ein Grundrecht auf Freizeit und Konsum haben.
Ja, das macht mich wütend; und gleichzeitig bin ich voller Zuversicht, Liebe und Hoffnung. Ich sehe und spüre die unendliche Kreativität und Resilienz von Menschen, die immer schon in einem inneren oder äußeren Ausnahmezustand leben. Jetzt ist es Zeit, diese Perspektiven ins Zentrum unseres Handelns zu setzen. Und diese Erfahrungen sind in sich vielfältig, je marginalisierter, desto unsichtbarer im öffentlichen Diskurs. Ich frage mich zum Beispiel selbst, warum ich erst jetzt, von der Idee, Webinare und Online-Beratungsangebote zu gestalten, zu der Umsetzung gehe. Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen schreiben von ihrem Schmerz: wie es sich anfühlt, zu erleben, dass jetzt, da Menschen ohne Behinderungen Einschränkungen erleben, neue Wege und Formate gefunden werden. Ihre Stimmen wurden zuvor nicht gehört und ernst genommen.
Ich bin wütend und ich bin zuversichtlich. Die Natur passt sich an die Schäden, die wir ihr zufügen, immer wieder an, treibt Löwenzahn durch Asphalt, erholt sich und schenkt uns einen neuen Frühling. Jetzt kann sich die Natur regenerieren. Es gibt weniger Flüge, Verkehr und die Auswirkungen sind sofort spürbar. Es wird deutlich, was möglich ist, wenn es eine bewusste Entscheidung gegen etwas und damit auch für etwas gibt. Die Resilienz der Natur erinnert mich an meine eigene Resilienz. Wenn die Natur sich erholt, erhole ich mich, erholen wir uns als Gesellschaft und als Welt. Vom Konsum, vom immer weiter rennen, keine Zeit zum Zuhören haben. Jetzt ist die Zeit zum Innehalten und ganz tief nach Innen schauen, Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken. Mit allen Sinnen, die uns zugänglich sind, Erleben. Atmen mit der Angst, der Wut, der Hoffnung auf Erneuerung und der Liebe der Versöhnung. Durch alles was kommt hindurchatmen, in Kontakt sein, physisch Abstand halten und im Herzen zusammenrücken, informiert sein und vor allem konsequent die Bedürfnisse derjenigen priorisieren, die gerade am verletzbarsten sind.
Wenn in der Vergangenheit noch kein Raum dafür war, ist jetzt die Zeit gekommen, unsere Privilegien zu reflektieren, Einschränkungen als Chancen und als Akt der Kreativität und Solidarität zu verstehen.
Lasst uns radikal sein, lasst uns radikal sanft und liebevoll sein, lasst uns zusammen neue Wege finden. Wir brauchen eine Politik, die agiert, nicht nur reagiert und die Bedürfnisse von allem Menschen im Blick hat: Ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine Sicherung von würdevollem Leben, würdevoller Arbeit für alle Menschen. Wir brauchen Raum zum Atmen, zum Sein, zum Erleben, Raum, uns selbst und einander zu begegnen. Lasst uns die gerechte Gesellschaft, die wir so lange gedacht und gezeichnet haben, jetzt mit all unseren Kräften Wirklichkeit werden lassen!