Ein einziger Schritt - Antidiskriminerung und Achtsamkeit

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Begrüßungsworte zu einem Vernetzungstreffen für Multiplikator*innen, die mit geflüchteten Mädchen* und jungen Frauen arbeiten

Herzlich willkommen und schön, dass Sie alle da sind. Ich bin ebenso überwältigt und erfreut über das große Interesse und die vielen persönlichen Rückmeldungen, die ich auf die Einladung für dieses Treffen bereits bekommen habe. Es ist spürbar, dass wir mit diesem Thema etwas aufgegriffen haben, das viele Menschen bewegt und offensichtlich auch zusammenbringt.

Ziel des Projektes Mädchen* nach Flucht ist es, wichtige Themen und Bedarfe in der Arbeit mit geflüchteten Mädchen* in Baden-Württemberg sichtbar zu machen. Und diese Themen und Bedarfe sind so vielfältig wie die Lebensgeschichten der Mädchen* und so vielfältig wie unsere eigenen Lebensgeschichten. Gleichzeitig gibt es natürlich Themen, die immer wieder angesprochen werden. Es entsteht die Frage, warum die Bedarfe der Zielgruppe im öffentlichen Diskurs oft in den Hintergrund geraten und wenn dann sehr einseitig geführt werden. Diese Frage führt mich zu einem zentralen in unterschiedlichen Formen wiederkehrenden Thema: Diskriminierung und Mehrfachdiskriminierung im Besonderen.

Diskriminierung bewirkt, dass die Interessen von betroffenen Gruppen öffentlich wenig vertreten werden. Für Menschen mit mehr Privilegien werden viele Geschichten angeboten mit denen sie sich identifizieren können und mehr Plattformen sind für ihre Interessen zugänglich. Die Interessen von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen werden an den Rand des gesellschaftlichen Diskurses gedrängt und oftmals mit einseitigen Stereotypen belegt.

Unser Projekt bezieht sich auf Baden-Württemberg aber natürlich ist das Thema nicht nur auf Baden-Württemberg oder Deutschland begrenzt, sondern ein globales sowie vielschichtiges Thema. Zum Ende des Jahres hin soll eine Handreichung entstehen, die ihnen Impulse für ihre Arbeit geben kann und zum Reflektieren einlädt. Ich habe mit einigen von Ihnen bereits sprechen können, habe recherchiert was es an Projekten in der Vergangenheit gegeben hat und viel gelesen und Informationen zusammengetragen. Mit der LAG Mädchenarbeit NRW war ich in besonders engem Austausch und möchte hiermit die beiden Kolleginnen, die heute hier sind, ganz herzlich begrüßen.

Die Beiden begleiten das Projekt Mädchen* nach Flucht in Nordrhein-Westfalen und werden uns in ihrem Input später Einblick in ihre Arbeit und die Erhebung, die sich durchgeführt haben, geben. Mir ist der Begriff große Schwester in Hinblick auf das Projekt eingefallen. Thematisch und von der Perspektive her sehr ähnlich, gibt es doch erhebliche Unterschiede in Ressourcen, Laufzeit und Umfang. Aber gleichzeitig gab und gibt es eben auch viele Möglichkeiten, sich geschwisterlich zu unterstützen und miteinander zu lernen.

Bei meiner Arbeit im Projekt ist mir eins schnell klar geworden. Es gibt einen hohen Bedarf an Information und Unterstützung, gleichzeitig gibt es bereits viele Ressourcen und Angebote auf die zurückgegriffen werden kann. Diese sind nicht immer leicht zu finden sind, vielleicht auch teilweise zu lang oder zu weit weg von der Praxis. Ganz deutlich ist mir das Gefühl der Dringlichkeit dieses Bedarfes – eine Art urgency – geworden.

Als Grund für dieses Gefühl sehe ich die vielen existenziellen Themen, die durch die Mädchen an uns herangetragen werden – je nachdem in welchem Bereich wir arbeiten, mit mehr oder weniger Distanz – die Begegnung berührt auch unsere eigenen existenziellen Themen. Wir wollen professionell reagieren und reagieren oft emotional ohne dass es uns bewusst ist. Diese Trennung von Professionalität und Emotionalität und Menschlichkeit ist ohnehin ein Konstrukt, das oft mehr Schaden als Nutzen bringt.

 

Sich Zeit nehmen, voneinander und miteinander lernen, weil uns etwas wichtig ist

Weil wir unsere Arbeitssituation und die Situation von geflüchteten Mädchen und jungen Frauen verbessern möchten

Das ist aus meiner Sicht ein Geschenk, das wir uns selbst, einander und den Mädchen mit denen wir direkt oder indirekt arbeiten machen können

 

Die Themen Flucht und Diskriminierung, die Art und Weise wie über diese Themen gesprochen wird, oft mehr gestritten und gekämpft, die gesellschaftlichen Bedingungen und Arbeitsbedingungen mit denen wir umgehen, nehmen uns oft den Atem

Manchmal fühlt es sich so an als gäbe es keinen sicheren Boden unter unseren Füßen auf dem wir den nächsten Schritt machen können

Und in dieser Atemlosigkeit müssen wir Entscheidungen treffen, handlungsfähig sein, auf Bedürfnisse reagieren, weitergehen

Es macht mir Mut, zu sehen wie viele Teilnehmer*innen heute hier sind und damit ein gemeinsames Anliegen formulieren, diese Gemeinsamkeit möchte ich gerne in den Vordergrund stellen.

Neben dieser wichtigen Gemeinsamkeit gibt es auch die Unterschiede, die wir in uns tragen. Vorstellungen von dem Weg auf dem sich Dinge ändern können, Unterschiede in unseren eigenen Positionierungen, in unseren Berufen, eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung, vielleicht auch eigener Fluchterfahrung.

 

Ich möchte Sie einladen, die Verbindung in unserem gemeinsamen Anliegen zu sehen und gleichzeitig mit Achtsamkeit und Langsamkeit, Raum für die Unterschiede in unseren Erfahrungen zu schaffen.

Wir haben uns für heute ein komplexes Thema vorgenommen, wollen uns austauschen, Neues lernen und ich möchte Sie einladen, auch immer wieder inne zu halten, auf sich selbst und aufeinander zu achten.

Räume wie diesen können wir nutzen, um zu üben und zu praktizieren, was wir gerne in unserer Arbeit verwirklichen möchten.

 

Ich musste und muss auch selbst in meiner Arbeit in diesem Projekt häufig gut nachspüren was möglich ist und wo ich Grenzen sehe, was ich mir wünschen würde und was momentan möglich ist. Ich habe dabei auch Entscheidungen, Vorstellungen verändert und meine Erwartungen angepasst. Ich war dabei mit Kolleg*innen und Freund*innen in engem Austausch. Eins ist sicher. Diese Art des Austausches, den wir hier heute anstoßen möchten, ist als erster Schritt von großer Bedeutung.

Manchmal bringt uns ein einziger Schritt, der auf gut bereiteten Boden setzt mehr als 10 oder 100 Schritte, die wackelig auf Treibsand landen.

Ich wünsche mir und lade Sie ein, dass wir heute alle einen kleinen persönlichen Schritt gehen, zusammen wären das schon fast 50 kleine gute Schritte – eine beachtliche Anzahl

Kleine Schritte, die wir weiter in unsere Einrichtungen und über unsere Arbeit hinaustragen – in welcher Form auch immer

Jetzt freue ich mich auf unser weiteres Kennenlernen und eine gute gemeinsame Zeit.